Beschluss des Landesparteitages vom 14.05.2022
Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, ist für gesellschaftlicher Teilhabe von herausragender Bedeutung. Die Möglichkeiten, relevante Informationen zu erhalten, sich Gehör für die eigenen Interessen zu verschaffen, und sich politisch einzubringen, sind maßgeblich davon abhängig, dass man die Schriftform beherrscht. Einen politischen Antrag zu verfassen, wäre ohne Hilfe nicht möglich. In Deutschland gelten 6,2 Millionen Menschen als gering literalisiert. Die Tendenz sinkt zwar, trotzdem können wir unsere Anstrengungen noch verbessern. Dabei kommt es vor allem auf die Grundbildungsangebote vor Ort an.
Neben den Kursen zur Alphabetisierung sind auch Kurse zur Vorbereitung auf eine Nichtschüler*innenprüfung (Schulabschlusskurse) ein wichtiges Angebot, um die Grundlagen für den weiteren Lebensweg zu legen. Beide Kursformen werden in diesem Antrag unter dem Begriff „Grundbildung“ zusammengefasst.
Grundbildung muss präsent sein
Geringe Literalität ist mit einem enormen Stigma verbunden. Kaum jemand möchte öffentlich darüber sprechen, nicht lesen und schreiben zu können. Trotzdem muss das Problem in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden, um Betroffene auf die Angebote vor Ort hinzuweisen. Zielgruppengenaue Öffentlichkeitsarbeit ist notwendig.
Über 60% der gering literalisierten Erwachsenen sind berufstätig. Die Zusammenarbeit mit Betrieben ist deshalb ein wichtiger Bestandteil für Grundbildung. Dort können Menschen mit Grundbildungsbedarf erreicht werden. Berufliche Gründe sind wichtigster Faktor für die Entscheidung, an einer Weiterbildung teilzunehmen. Es reicht aber nicht, Betriebe für Grundbildung zu sensibilisieren. Weiterbildung muss zu einer Selbstverständlichkeit im Arbeitsleben werden. Betriebe müssen verpflichtet werden, über Weiterbildungsmöglichkeiten zu informieren, ausreichend Zeit für berufliche und persönliche Weiterbildung einzuräumen und sich auch finanziell an den Angeboten zu beteiligen.
Doch auch arbeitslose und erwerbsunfähige Erwachsene müssen für Grundbildung erreichbar sein. Dafür ist es sinnvoll, mit Behörden zusammenzuarbeiten, mit denen diese Gruppe Kontakt hat. Mitarbeiter*innen von Arbeitsamt, Jobcenter und Bürgerbüro können geschult werden, wie man geringe Literalität erkennt und Betroffene berät. Gleichzeitig muss der Behördenkontakt niedrigschwellig möglich sein. Formulare und Anträge sollten in Zusammenarbeit mit Expert*innen für Leichte Sprache erstellt werden.
Wir fordern:
- Verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, um das gesellschaftliche Stigma rund um Grundbildungsbedarf abzubauen
- Verpflichtende Aufklärung über Weiterbildungsmöglichkeiten in Betrieben
- Niedrigschwellige Gestaltung von Behördenkontakt, insbesondere Formulare und Anträge in Leichter Sprache
- Multiplikator*innenschulungen für Betriebe und Mitarbeiter*innen von Behörden, wie man geringe Literalität erkennt und Betroffene zu Weiterbildungsmöglichkeiten berät
Grundbildung muss hürdenlos sein
Angebote der Grundbildung müssen so niedrigschwellig wie möglich gehalten werden. Erste Barriere sind die Kosten des Kurses. Bildung darf nichts kosten, das gilt für den ersten Bildungsweg genauso wie für den zweiten. Lehr- und Lernmittelfreiheit sollten daher genauso selbstverständlich sein, wie, dass keine Kursgebühren erhoben werden. Wer einen Kurs der Grundbildung besucht, hat meistens schlechte Erfahrungen mit dem Lernen gemacht und braucht dabei Begleitung. Deshalb sollte es für alle Angebote der Grundbildung eine sozialpädagogische Unterstützung geben, die den Teilnehmenden Sicherheit für Lernen und Leben vermitteln kann.
Der Besuch eines Grundbildungskurses kann auch Kosten für die Mobilität verursachen. Die Angebote sollten so lokal wie möglich sein. Es genügt nicht, wenn Grundbildung in jeder nächstgelegenen Großstadt stattfindet. Dafür muss auch kleinen Bildungsträgern oder lokalen Initiativen die Möglichkeit gegeben werden, Anträge auf Förderung zu stellen. Trotzdem können bei kleinem Geldbeutel auch kurze Wege eine Hürde darstellen, daher müssen die Teilnehmenden von Grundbildungskursen auch bei den tatsächlich anfallenden Kosten für S-Bahn, Taxi und Co unterstützt werden.
Grundbildung dauert länger als ein Bildungsurlaub. Klassischerweise findet sie in Abendkursen statt, die nach der Arbeit besucht werden. Für den Lernerfolg ist das alles andere als sinnvoll. Darüber hinaus können es sich nicht viele Menschen leisten, in ihrer Freizeit einen lernintensiven Kurs zu absolvieren. Auch Grundbildung ist eine Form der beruflichen und persönlichen Weiterbildung; sie kann Arbeitnehmer*innen für komplexere Aufgaben qualifizieren und stellt den Einstieg zu anderen Weiterbildungsangeboten dar. Dafür darf sie nicht halbherzig angegangen werden. Es muss möglich sein, Kurse der Grundbildung auch während der Arbeitszeit zu besuchen. Vorstellbar wäre es, die Möglichkeit eines Bildungsurlaubs auf Abendkurse auszuweiten.
Wir fordern:
- Lehr- und Lernmittelfreiheit und keine Kursgebühren für Angebote der Grundbildung
- Sozialpädagogische Begleitung für alle Kurse der Grundbildung
- Fördertöpfe für lokale Grundbildungsstrukturen, die einfach zu beantragen sind, sodass auch kleine Bildungsträger Anträge stellen können
- Unterstützung der Teilnehmenden von Grundbildungskursen bei den Mobilitätskosten. Denkbar wäre eine Art „Semesterticket“, aber auch Konzepte des fahrscheinlosen ÖPNV
- Eine Verpflichtung von Betrieben, allen Mitarbeiter*innen den Zugang zu Grundbildungsangeboten zu ermöglichen
- Konzepte, einen langfristigen Kurs der Grundbildung in der Arbeitszeit durchführen zu können
Grundbildung für Erwachsene muss außerschulisch sein
Erste Anlaufstelle, um Lesen und Schreiben zu lernen, ist die Schule. Für die meisten Akteur*innen im schulischen Bildungssystem findet Bildung nach wie vor ausschließlich in der Schule statt. Doch nicht alle Schüler*innen können so für Grundbildung erreicht werden. Menschen, die die Grundschule verlassen, ohne ausreichend Lesen und Schreiben gelernt zu haben, verbinden mit dem Lernen in der Schule häufig unangenehme Erfahrungen und Scheitern. Viele können in der Schule nicht mehr für Grundbildung erreicht werden.
Die Zielgruppe für Grundbildungsangebote hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Das klassische Bild vom mittelalten Kranführer, der fürs Weiterkommen im Job Lesen und Schreiben muss oder einen weiterführenden Schulabschluss braucht, ist nicht falsch. Es wird allerdings ergänzt von Jugendlichen, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen haben und ihn noch vor dem Beginn einer Ausbildung nachholen wollen. Dazu kommen Zweitschriftlerner*innen. Viele Teilnehmende von Grundbildungskursen haben einen hohen Schulabschluss. Grund sind Geflüchtete, die bereits in ihrer Muttersprache literalisiert sind und nun eine zweite Schrift und Sprache lernen müssen. Für diese Zielgruppen haben beispielsweise Volkshochschulen didaktische Konzepte erarbeitet, die sich von denen in der Grundschule unterscheiden.
Neben allen Forderungen nach besserer frühkindlicher Bildung muss ein realistisches Bildungskonzept daher auch das lebenslange Lernen im Blick haben. Außerschulische Bildung kann sich besser an der jeweiligen Lebenswelt ihrer Teilnehmenden orientieren, als es eine allgemeinbildende Schule kann. Außerdem kann so die Bildungsbiografie der Teilnehmenden mit einbezogen werden. Die pädagogischen Konzepte sind auf Erwachsene ausgelegt. Diese Konzepte müssen durch Curricula und vergleichbare Abschlussprüfungen ergänzt werden, die sich an der Lebenswelt der Teilnehmenden orientieren.
Wir fordern:
- Bewusstsein für den Stellenwert außerschulischer Angebote bei den Beteiligten des schulischen Bildungssystems
- Förderung von fachlichem Austausch zwischen schulischen und außerschulischen Bildungsträgern
- Etablierung lokaler Vernetzungsstrukturen zwischen schulischen und außerschulischen Bildungsträgern
- Ein eigenes Curriculum mit Übungen und auch Abschlussarbeiten, die zur Lebensrealität von erwachsenen, im Beruf stehenden Menschen passen.
Grundbildung muss qualitativ hochwertig sein
An Kurse der Grundbildung werden besondere Anforderungen gestellt, da ihre Inhalte sich an Erwachsenen orientieren müssen, die Mitten im Leben stehen. Zum Teil haben die Teilnehmer*innen bereits negative Erfahrungen mit dem Lernen gemacht, was Lehrkräfte vor besondere Herausforderungen stellt, auf die sie vorbereitet sein müssen. Dafür braucht es die richtigen Konzepte, die auf regelmäßigen Fortbildungen vermittelt werden müssen. Um qualifizierte Lehrkräfte zu gewinnen, ist es notwendig, gute und verlässliche Arbeitsbedingungen zu schaffen und flexibel auf die Wünsche der jeweiligen Lehrkraft einzugehen.
Wir fordern:
- Koordinierte und flächendeckende Fortbildungsmöglichkeiten für Lehrkräfte in Grundbildungsangeboten, die in Zusammenarbeit mit den Hochschulen weiterentwickelt werden. Diese müssen kostenlos und im besten Fall auch für Honorarkräfte angemessen vergütet sein.
- Bereitstellung von individualisierbaren Unterrichtsmaterialien
- Sozialversicherungspflichtige Anstellungsmöglichkeiten für Lehrkräfte in der Grundbildung
Grundbildung muss finanziert sein
Für die meisten Anbieter*innen von Grundbildung ist dieser Bereich defizitär. Im Idealfall sind die Angebote kostenlos, verursachen aber natürlich Kosten für Material und Personal. Förderung für Grundbildung ist häufig an besonders innovative Konzepte geknüpft, obwohl die bereits bestehenden Angebote nicht ausreichend finanziert sind. Das führt dazu, dass viele Bildungsträger ihr Grundbildungsangebot einschränken. Eine einfache Erreichbarkeit, gerade auf dem Land, ist gefährdet.
Von den Angeboten der Grundbildung profitieren, neben den Teilnehmenden selbst, insbesondere Agentur für Arbeit und Jobcenter, sowie die Betriebe, in denen Betroffene arbeiten. Durch Grundbildung werden Vermittlungshemmnisse abgebaut und Arbeitnehmer*innen qualifiziert. Diese Parteien, die von Grundbildung profitieren, sollten auch zu ihrer Finanzierung beitragen.
Wir fordern:
- Ausfinanzierung der normalen Grundbildungsangebote (Schulabschlusskurse, Kurse zur Alphabetisierung); dabei muss auch die Möglichkeit gegeben sein, Dozent*innen, die jetzt auf Honorarbasis arbeiten, sozialversicherungspflichtig anzustellen. Auch eine sozialpädagogische Begleitung muss bei der Finanzierung berücksichtigt werden.
- Für die Bildungsträger einfach zu beantragende Fördermöglichkeiten für Projekte, die darüber hinaus gehen
- Kopplung der Finanzierung an die Gemeinnützigkeit der Bildungsträger
- Einbeziehen von Grundbildung in finanzierte Maßnahmen von Agentur und Jobcenter
- Finanzielle Beteiligung von Betrieben an Weiterbildungsmaßnahmen, von denen sie profitieren
- Teilnehmende an Kursen der Grundbildung sollten berechtigt sein, Berufsausbildungsbeihilfe zu beziehen.